Räume der Passion

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Hans Aurenhammer und Daniela Bohde (Hrsg.):

Räume der Passion: Raumvisionen, Erinnerungsorte und Topographien des
Leidens Christi in Mittelalter und Früher Neuzeit
.

(Vestigia Bibliae 32/33) Bern: Lang 2015.

VII, 483 S.

 

Mitten dabei sein, wenn Jesus für mich stirbt und mich so erlöst:
mittelalterliche und neuzeitliche Orte der Erfahrung

Eine Rezension von Christoph Auffarth

 

Die für die Menschen des Mittelalters und der Neuzeit entscheidende Heils- und Erlösungstat, die Passion, Kreuzigung und Auferstehung Christi, ist für diese ein Ereignis, das einerseits in fernen Zeiten und an fernen Orten stattfand, andererseits auch ‚hier‘ und ‚heute‘ und ‚für mich‘ bedeutungsvoll ist. Der neue Band der Reihe des Jahrbuchs des Deutschen Bibel-Archivs in Hamburg gibt sich [1] die interessante Fragestellung: Wie wird das Leiden Christi (und seine Auferstehung) ins Präsens versetzt? Dabei soll besonders auf die Räume geachtet werden. Die Achtsamkeit auf die Bedeutung von Raum (Grenze, Wand, Eintritt und Wiederaustritt, Zentrum, oben/unten) Raumwahrnehmung und Landkarte ist in den Kulturwissenschaften der letzten Jahre zunehmend beachtet worden; mehrere Beiträge nehmen auf Theorien dieses spatial turn Rücksicht, etwa in der Einleitung von Hans Aurenhammer und Daniela Bohde: Die Räume der Passion – eine übersehene Dimension? Die Literatur in den Anmerkungen geht bis 2011. Nicht alle Beiträge profitieren von der Perspektive. Die Beiträge sind illustriert, allerdings jeweils erst nach dem Text (im Text wäre besser!). Kein Register; am Schluss werden die Beiträger kurz vorgestellt. Fehler im Lateinischen selten. Ein schlagendes Beispiel für die Räumlichkeit ist die Tuchertafel 1485 in St. Lorenz, Nürnberg, wo die Kreuzigung auf dem Golgatha auf einem Berg vor den Toren Bambergs dargestellt ist. Der Band ist in sechs Themenfelder gegliedert (im Folgenden fett hervorgehoben).

1. ‚Loca sancta‘. ¶ Bruno Reudenbach: Golgatha – Etablierung, Transfer und Transformation. Der Kreuzigungsort im frühen Christentum und im Mittelalter (13-28). Wenn anfangs ein eher innerliches Erinnern der Passion Jesu als passend erschien, werden ab Konstantin 320 zunehmend die Orte wichtig, heilig zunächst als Orte der Wundermacht, erst später die Orte der Passion. ¶ Yamit Rachman Schrire: The Rock of Golgotha in Jerusalem and Western Imagination. (29-48): Riefen, Spalten, Erhebungen als authentische Belege für die Anwesenheit der Personen der Heilsgeschichte. Allerdings ist Bernhard (Super Canticum 61,3f; S.40-42) ein schlechtes Beispiel, weil er explizit sich und seinen Mönchen verbietet, ins Heilige Land zu ziehen. ¶ Birgit Ulrike Münch: Körper und Karte. Historizität, Topographie und Vermessung medialer Wissensräume der Passion in der Frühen Neuzeit bei Christiaan van Adrichem und anderen (49-79) zeigt, wie in der Konfessionalisierung zunehmend die wissen¬schaftliche Erforschung, gewissermaßen das geographische ad fontes zum protestantischen Grundsatz wird und Bilder von ‚Original‘orten zum Einkleben in die Bibeln gedruckt werden.

2. Re-Inszenierungen ¶ Johann Schulz: Ereignisraum Jerusalem. Zur Konstituierung eines Sakralraumes vor den Mauern der Stadt Nürnberg (83-116) argumentiert, dass der Stationenlauf in der Stadt und das ‚Heilige Grab‘ dazu eingerichtet wurden, um die Nürnberger zum neuen Friedhof zu führen, als dieser außerhalb und nicht – wie vorher üblich – in der Stadt eingerichtet wurde. ¶ Christian Freigang, Bildskeptische Nachbildungsmodi der Passionstopographie Christi im Spätmittelalter: der Görlitzer Kalvarienberg (117-150) stellt das Ensemble von den drei Gebäuden in Görlitz vor, die die Jerusalemer Grabeskirche – ohne das überwölbende gemeinsame Dach – um 1500 nachbildete. Die Nachbildung ist im Einzelnen sehr getreu nach den Maßen gebaut, die die Pilger aus Jerusalem mitbrachten. Auch die Evangelistenberichte sind getreu aufgenommen in der Gestaltung bis hin zu dem kunstvoll gestalteten Riss in der Wand, der fiktiv aus dem Erdbeben herrührte, das sich ereignete, als Jesus starb. CF wundert aber, dass das Gebäude wie verlassen aussieht, mit all den Spuren der Geschichte (wie die Würfel), ohne dass die Kreuzigung selbst monumental dargestellt ist. Er nennt das Bildskepsis, Zurückhaltung, das Ereignis selbst darzustellen. Ein Kupferstich zeigt [2], wie eine Prozession das Ereignis nachspielt, indem Jesus vom Haus des Pilatus bis zur Kreuzigung, Salbung, Auferstehung geführt wird. Wenn lebende Menschen das Ereignis im Jerusalem der Lausitz performieren, dann wäre jede dauerhafte Repräsentation störend. Auf den Stein am Grab für die Soldaten und für den Engel stellt sich bei der Prozession je eine lebendige Person; da darf keine Steinfigur stehen! Der Kupferstich ist etwa 200 Jahre später, aber es dürfte von Anfang an das ‚Theater‘ der Passion in dem – dem heutigen Kunsthistoriker – leer erscheinenden Raum Leben gebracht haben. ¶ Eines der spannendsten Kapitel stammt von Achim Timmermann: Golgatha, Now and Then: Image and Sacrificial Topography in Late Medieval and Early Modern Europe (151-178). AT hat in den Büchern zur Verbrechensbekämpfung (Halsgerichtsordnungen) in der Frühen Neuzeit in den Abbildungen entdeckt, wie die Delinquenten beim Gang zur Hinrichtung an einem Stein mit dem Bild der Kreuzigung anhalten, wie ihnen ein Bild des Gekreuzigten unmittelbar vor das Gesicht gehalten wird oder sie selber halten. Die Folterwerkzeuge der jetzigen Kriminellen werden dargestellt ähnlich den Arma Christi, den Folterwerkzeugen der historischen Passion Jesu. AT schließt daraus, dass damit die Christusförmigkeit der frühmodernen Rechtsdurchsetzung ausgedrückt werde [3]. Und er fragt, ob dem Bild in den Büchern irgendeine Realität in den Berichten über Hinrichtungen entspreche. Da sei aber ein großes Schweigen. Mir scheint hier eher das Motiv der ‚Gnade vor Recht‘ entscheidend: Wie damals der eine der Mitgekreuzigten von Jesus begnadigt wurde, trotzdem vom Staat hingerichtet wurde, so kann auch jetzt Jesus zu einem bereuenden Verbrecher sagen: „Heute wirst Du mit mir im Paradiese sein.“ (Lukas 23,43): Gnade ist religiös und erst im Jenseits; Recht, und damit häufig das Scharfgericht der Hinrichtung, ist diesseitig und Aufgabe weltlicher Herrschaft. Dem Delinquenten das Kreuz auf Augenhöhe zu zeigen, ermöglicht ihm, beim Gekreuzigten zu bereuen und um – jenseitige – Gnade zu bitten.

3. Schauspiel, Liturgie, Prozession ¶ Margreth Egidi, Theatralität und Bild im spätmittelalterlichen Passionsspiel. Zum Verhältnis von Gewaltdarstellung und compassio (181-203) beschäftigt sich mit den Passionsspielen, aus deren Dramaturgie man Rückschlüsse ziehen kann. In den drastischen Darstellung von Gewalt und Leiden sind teils die Anwendung der Gewalt oder die standhafte „bildhaft-statische Ausstellung des“ Erleidens hervorgehoben. Letzteres vergleicht sie mit den sog. Vesperbildern: die Darstellung das Moments, da der gefolterte Christus für einen Augenblick erschöpft da sitzt. Sie beobachtet ein Wechselspiel zwischen Verkörperlichung und Verinnerlichung. Die inneren Dialoge der Personen auf der Bühne öffnen sich zum äußeren Publikum hin durch direkte Anrede, wie die dramatisch wiederholte Erlösungstat etwas für die Zuschauer im Hier und Heute bewirkt. ¶ Anja Rathmann-Lutz, Räume der Passion im spätmittelalterlichen Basel. Eine Lektüre des Ceremoniale Basiliensis Episcopatus (205-232) liest das Ceremoniale auf die dort zu erschließenden Riten und Wege hin: rekonstruiert Abb. 2 auf dem Münsterplatz und Abb.5 im Münster. Dabei werden immer auch die Gräber der Verstorbenen und die Messen für sie einbezogen. ¶ Den m.E. kreativsten und die systematischen Kriterien am Genauesten aufgreifenden Beitrag hat Heike Schlie: Der bildmediale Parcours durch den Passionsraum. Immersive und operative Praktiken in dem Pariser Holzschnitt der Grande Passion und in Memlings Turiner Passion (233-267) geschrieben. Sie beobachtet an den beiden Bildern (Paris 1495 beruht auf Memling 1470), wie dort Bilder in Zeitfolgen zueinander in einem Parcours verbunden sind. Die eine Lösung, es handle sich um eine Tugendleiter, funktioniert nicht: Denn nach dem ersten Anstieg geht es wieder bergab, zur Kreuztragung. Sie vergleicht ihn mit der realen Passionsprozession in Brügge, die die ‚echte‘ Blutreliquie seit dem Vierten Kreuzzug besaß. Dort geht es nach den Orten in der Stadt um die Stadtmauer außen herum zur Kreuzigungsstätte.

4. Das Buch als Andachtsraum. ¶ Jeffrey F. Hamburger: The Passion in Paradise: Liturgical Devotions for Holy Week at Helfta and Paradies bei Soest (271-309). ¶ Andreas Krass: Räume des Mitleidens. Text-Bild-Beziehungen in einem spätmittelalterlichen Mariengebetbuch (Frankfurt, UB, Ms. germ. oct. 5). (311-332). Beide Beiträge bieten nur eine sehr metaphorische Anwendung des Raumbegriffs. Hamburger zeigt die Verbindung zu den Ritualen der Karwoche.
5. Bildräume der Imagination ¶ Hans Aurenhammer, Schräge Blicke, innere Landschaften. Räume der Kreuzigung Christi bei Jacopo Bellini, Giovanni Bellini und Antonello da Messina (335-375) interpretiert einige auffällige Kreuzigungsszenen aus der venezianischen Frührenaissance: Der gekreuzigte Christus wechselt nicht mehr, wie bis dahin die Regel, die Blicke mit den BetrachterInnen, sondern sein Gesicht ist abgewendet, das Kreuz schräg zum Blickenden. Die Landschaft um die Szene der Kreuzigung herum erweitert sie in einem größeren Raum. HA bewertet die „schrägen Blicke“ als Subjektivierung des Blicks. HA erkennt in einigen der Zeichnungen eine Moralisierung der Darstellung. Wenn die Fokussierung auf die Landschaft die Kreuzigung in ihrer Bedeutung zurücktreten lässt, so bewertet HA das als Moralisierung, wenn hingegen die Landschaft nur Hintergrund bildet, so versteht er das als die Welt, die auf den Erlöser wartet, also meditativ auf den Erlöser hin blickend. Der Vergleich zeitgenössischer, in der gleichen Region gemalter Bilder lässt Alternativen, bewusste Aufnahme und Widerspruch erkennen. ¶ Daniela Bohde, Blickräume. Der Raum des Betrachters in Passionsdarstellungen von Schongauer, Baldung und Altdorfer (377-411) versetzt sich in die Blickrichtungen wimmelnder oder relativ einsamer Kreuzigungsszenen. Die Fokussierung auf eine der Trauernden, Maria Magdalena, Repräsentantin des reuevollen Sünders, zeigen diese als besonderes emotional. Kritik an den Kreuzigungsbildern, die Christi Haupt nicht mehr dem Betrachter zugewandt zeigen, äußerte zeitgenössisch Ludolph von Sachsen (s. Zitat S. 379 A. 4).

6. Bilder im Raum ¶ Saskia Hennig von Lange: Im Raum des Bildes. Die ‚fehlenden‘ Passionsszenen in der Karlsteiner Heilig-Kreuz-Kapelle ( 415-443). Warum in der Burg Kaiser Karls IV. gerade die Kreuzigung fehlt, bringt sie zu einer neuen These: Die Reliquien integriert in die Bilder stellten die Betrachter in die Mitte zwischen einem aufgeschlagenen Altarretabel: machen die Betrachter zu Akteuren im Passionsraum. ¶ Jason Di Resta: Violent Spaces and Spatial Violence: Pordenone’s Passion frescoes at Cremona Cathedral (445-477). Gute Beobachtungen (neben weit hergeholten Thesen) zu den Fresken, die Pordenone 1515-1522 ausmalte: etwa die Annagelung Christi mit dem viel zu weit unten vorgebohrten Nagelloch (Abb.3) oder der begnadig¬te Mitgekreuzigte, der geradezu hinüberfliegen will zu seinem Erlöser, und der Bewaffnete, der ganz zum Zeigefinger auf den Erlöser wird. (Verweis auf Koerner, Reformation of the image 2004).
Die Fragestellung nach dem Raum der Passion, der von seinem ursprünglichen Ort alljährlich am Ort der Gläubigen imaginiert, nachgespielt, transponiert wird, eine der Beteiligten von damals als Identi¬fikationsfigur für die heutigen Gläubigen wird, ist spannend und anregend. Alle Beiträge sind sehr gut belegt auf dem neuesten Forschungsstand. Neben den eher statischen Raumvorstellungen habe einige Beiträge auch Ritual- und Performationstheorien mit berücksichtigt, und so eine religionswissenschaftliche Perspektive eröffnet.

6. Juli 2015
Christoph Auffarth
Religionswissenschaft
Universität Bremen

E-Mail: auffarth@uni-bremen.de

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[1] Genauer: die Herausgeber Hans Aurenhammer und Daniela Bode habe an der Universität Frankfurt eine Tagung geplant und durchgeführt, aus deren Beiträgen dieser Band entstand. Im folgenden Kürze ich die Autoren gelegentlich ab mit ihren Initialen.
[2] Abbildung der Ausführung Christi zu seinem mchmertzl. Leyden, nebst Vorstellung des so genannten heiligen Grabes und der Creutz=Kirche in Görlitz 1719. Abb. III.19 in: Ines Anders; Marius Winzeler (Hrsg.): Lausitzer Jerusalem. 500 Jahre Heiliges Grab zu Görlitz. Görlitz: Oettel 2005, 65.
[3] Ähnlich versteht Valentin Groebner: Ungestalten. Die visuelle Kultur der Gewalt im Mittelalter. München: Hanser 2003, 106-114 Christus als Delinquent.

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