Uffelmann-Der erniedrigte Christus

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Dirk Uffelmann: Der erniedrigte Christus.
Metaphern und Metonymien in der russischen Kultur und Literatur.

Köln: Böhlau 2010. [X, 1046 S. (Bausteine zur slavischen Philologie und Kulturgeschichte N.F. 62)]

 

 

Das Vor-Bild für den Lebensentwurf: Christi Erniedrigung
vom russischen Christentum bis zum Kommunismus.

Zusammengefasst: Ein herausragendes Buch zu einem Bild der christlichen Religionsge­schichte über die Demut und von Gott verliehene Herrschaft vom Neuen Testament durch das russische Christentum bis ins 20. Jahrhundert, als es im Kommunismus unter anderen Vorzeichen weiter erwartet wird: Transformation einer christlichen Metapher.

Im Einzelnen: So dick, so exotisch vielleicht dieses beeindruckende Buch erscheint, über tausend Seiten und russische Kultur- und Literaturgeschichte, es ist ein herausragendes Muster für die Europäische Religionsgeschichte und enthält Grundlegendes für das Selbst-Bild vom Christ-Sein, von Biographie und Autobiographie, zur Mystik, zur Christologie.

Der in Passau lehrende Slawist hat in diesem Buch das Motiv der Kenosis (sich selbst „leer“ machen) fruchtbar gemacht. Wie Christus sich selbst erniedrigte, ist von Paulus im „Philip­per­hymnus“ (Philip­per 2, 5-11, bei Uffelmann 54-68) beschrieben: Er, der Sohn Gottes, ver­zichtete auf seinen Status als Gott. „Er entäußerte sich und wurde wie ein Sklave und den Menschen gleich. Sein Leben war das eines Menschen. … Darum hat ihn Gott über alle er­höht.“ Luther nannte diese S-Kurve „einen fröh­lichen Tausch“: Christus verzichtet auf alle Privilegien, auf das enthobene Leben eines Gottes und tauscht dafür ein Leben als Mensch, ja schlimmer noch, als Sklave und als Gefolterter und Hin­gerichteter ein. Dafür aber erhöht ihn Gott über alle. Daraus den Lebensentwurf des Christen zu machen, bedeu­tet, auf eigene Wünsche, Träume, Egoismus zu verzichten und sich ganz bereit zu machen, für die Gemein­schaft, für die Sache sich einzusetzen, schmutzige Arbeit und Leiden, vielleicht den eigenen Tod eingeschlossen. Dafür handelt man sich ein, dass seine/ihre Demut belohnt wird durch Berufung auf die höchste Stelle. Demut zeigt sich als subtile Haltung eines Anspruchs auf Herrschaft. Wer oben angekommen ist, kann sich klein machen, ohne klein zu sein. Und meist damit verbunden, er oder sie kann das von allen andern verlangen, klein zu sein und zu bleiben.

Dirk Uffelmann beschreibt die Demut ausgehend vom Philipperhymnus. Das ist einmal eine tiefe Einsicht in exegetische Methoden aus einer Staunen erregenden Kenntnis der theologi­schen Literatur. (Man sehe nur das Verzeichnis der Bibelstellen) Das ist erst recht beste Literaturwissenschaft. Die Frage nach Metapher, Trope und dem Paradox wird in grund­legender Weise analysiert und kommt zu neuen Erkenntnissen, vor allem in der Paradoxie (die dem Despoten die Demut erlaubt).[1] Seine These ist in der Untersuchung zu Metonymie und Metapher ausgeführt. So kommt U zu einer Ästhetik der Unähnlichkeit.

Auf den ersten, literaturwissenschaftlichen Teil, der an der Rhetorik des Christologie erarbeitet ist auf 200 Seiten, folgen im zweiten Teil die Untersuchungen zu zentralen Texten zunächst der russischen Religionsgeschichte, wie sie zur Sozialisation gehören (weitgehend auch noch im Kom­mu­nis­­mus): in der Liturgie des Gottesdienstes oder, welche Namen die Kinder bekommen. Ein bedeutendes Vorbild für die kommunistischen Revolutionäre sind die Soldatenmönche und die Verwechslung von Täter und Opfer. Die Seiten 551-591 erklären wie im Christentum Fanatismus, Herrschaft, Rechtfertigung von Krieg und Gewalt funktionieren. Das erhellt nicht nur an russischer Kultur Interessierte, etwa der Abschnitt „keine konstantinische Wende“!

Der dritte Teil führt in die russische Literaturgeschichte (595-924) des 19. und 20.Jhs.: An großen Romanen zeigt U, wie Autoren mit diesem Vorbild der Erniedrigung umgehen. Zunächst zum Opfer, das in eine Opferhysterie umschlägt (Černyševsky in den 1860er Jahren). Dostojewskij ist hier ganz oft angespielt, erhält aber kein eigenes Kapitel. Dann interpretiert U Helden und/oder Sklaven, vor allem aber die Rolle der Mutter/Maria bei Maksim Gorkij (schon unter dem Eindruck der und für die Revolutionen von 1905 und 1917). Disziplinierung und Antidisziplin im Konzept der Kenosis behandelt das Kapitel zu Ostrovskij, der im Stalinismus zur (zensierten) Massenware wird. Gegen die Verbürgerli­chung der Sowjetunion schreibt Eroveef an auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges). Und schließlich das Kapitel über Sorokin, der 1983 einen Roman schreibt, die ästhetischen Regeln verletzend, eine Ästhetik der Hässlichkeit. In Russland wurde er erst post-sowjetisch bekannt: Prostitution und Heilige, religiöses Glauben-Wollen aber nicht Können in para-christlichen Bildern. Erniedrigung mit Erhöhung gleichsetzt. U hat in Deutschland das Werk von Michail Ryklin übersetzt und bekannt gemacht, darunter sein Kommunismus als Religion (2008). Die dahinter liegenden Bilder aber sind in Uffelmanns großartigem Buch entschlüs­selt. Wer nur etwas Zeit hat, sollte wenigstens einige Teile lesen, wird über literarische Formen, v.a. die Funktion von Metaphern Tiefgreifendes erfahren. Aber v.a. die untergrün­di­gen Bilder aus dem Zentrum des Christentums und wie sie in der Europäischen Religions­geschichte wirken, auch in der Säkularisierung: „die kenotische Maschine läuft weiter!“

April 2014                                                                                                         Christoph Auffarth,

Religionswissenschaft

Universität Bremen

[1] Sogar das Griechische (nicht nur das Russische) ist im Original zitiert. Leider hat die Umwandlung der Fonts in einen Unicode nicht immer funktioniert: zB 68 in σαρκοποιηθεὶς ist statt des θ ein υ (der amerikanischen Tastatur) stehen geblieben.

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